Eine Empfehlung von Ilma Rakusa
Winterpoem 20/21
Russisch – Deutsch. Übersetzt von Olga Radetzkaja. Suhrkamp, Berlin 2023, 117 Seiten, 22 Euro.
Dieser dritte auf Deutsch erschienene Gedichtband der russischen Lyrikerin Maria Stepanova nimmt den Stillstand der Pandemiezeit zum Anlass, um berückend-melancholische Wintertableaus zu zeichnen, aber auch mit Ovids Tristia in Zwiesprache zu treten. Wobei dieser ans Schwarze Meer exilierte Ovid sehr heutig klingt: Er beklagt nicht nur seine Einsamkeit unter Barbaren, er wettert gegen Dichter, die »sich gern mit erfundenem Unglück schmücken« und massenhaft Bekenntnislyrik produzieren, vor allem aber verflucht er die »örtliche Harterde«, gedüngt »mit der Buttermilch des Kulturimperialismus «. Stepanova zurrt römische Vergangenheit und Putins völkerrechtswidrige Annexion der Krim zusammen, so wie sie Ovids Verbannung in den kalten Norden mit dem Pandemiewinter verknotet. Fäden laufen in viele Richtungen, und zum polyphonen Stimmenchor gehören Zitate von Puschkin, Mandelstam, Sappho und dem Chinesen Du Fu. Einmal mehr beweist sich Stepanova als eine Dichterin von großer Komplexität und visionärer Kraft.