Eine Empfehlung von Norbert Wehr
Nun wird es hell und du gehst raus
Ausgewählte Gedichte. Mit einem Nachwort von Helmut Böttiger. Wallstein, Göttingen 2024, 293 Seiten, 29 Euro
Jürgen Theobaldy war Zeuge, als Rolf Dieter Brinkmann im April 1975 in London von einem Auto erfasst wurde: »was er / hinterließ, war / dieses Arsenal von Wörtern, Wortfelder / Trümmerplätze von Wörtern, zersprengte / Wortwaffenlager (…)« Jetzt, fünfzig Jahre später, ist seine eigene – vorläufige – Hinterlassenschaft erschienen: ein beeindruckender Band, der das bisherige dichterische Werk (16 Bände) in einer Auswahl chronologisch durchschreitet … Mehrere Theobaldys sind darin zu besichtigen: der Verfasser der frühen, von hohem Ton und Hermetismus befreiten Parlando-Gedichte, in denen alles Platz haben konnte – der Alltag, die Poesie der Straße –, später der Kenner asiatischer Philosophie, der sich japanische Dichtung anverwandelt, strenge 31-silbige Tankas etwa, oder herzzerreißende Gedichte an die verstorbene Geliebte, eine Japanerin; am Ende wieder der Autor offener, auch langer Gedichte, die Epiphanisches im Profanen, im Gewöhnlichen aufzuspüren versuchen … Dem heute Achtzigjährigen wünscht man, dass sich erfüllen möge, was er bereits als 30-Jähriger in seinem Gedicht »Mein junges Leben« schrieb: »Wenn ich noch einmal geboren werde, / möchte ich als Zigarette / auf die Welt kommen und dann / zwischen deinen Lippen langsam verbrennen …« Und man möchte hinzufügen, dass er dann, verbrennend, trotzdem wieder schreibt …