Eine Empfehlung von Nora Bossong
Plötzlich alles da
Wallstein, Göttingen 2020, 136 Seiten, 24 Euro.
Bilder der großen »erdenkleine« sind es, die Dorothea Grünzweigs Gedichtband durchziehen. Durch Finnlands Landschaft und an die düsteren Flecken seiner Geschichte streift sie und hört aus der Ferne von den »schmerzhöfchen« ihrer Mutter, die im Dunkel des Pflegeheimzimmers ihre Tochter sucht. Eine Drosseltrauer liegt über dem Frühling, und die Rentiere weiden mit ihren Jungen, es ist eine stille, existentielle Verschwisterung zwischen Mensch und Natur, die hier aufscheint, und die samischen Sommermonde sind, »wie wenn der Tod nicht sei«. Grünzweigs Sprache ist so überraschend wie genau, dabei niemals allein um des Effekts willen originell. Intimität und Klarsicht, Einfühlung und Mut zur Verletzlichkeit, der eigenen wie der fremden, verbinden sich in ihren Gedichten zu einer nicht nur poetischen, sondern menschlichen Stärke, »ein dichter zusammenhalt durch den wir nicht fallen können«. Dorothea Grünzweig ist keine Entdeckung oder Empfehlung, sondern eine der großen deutschsprachigen Dichterinnen unserer Zeit.