Alice Oswald: 46 Minuten im Leben der Dämmerung

Eine Empfehlung von Michael Braun

Alice Oswald
46 Minuten im Leben der Dämmerung

Aus dem Englischen übersetzt von Iain Galbraith und Melanie Walz. S. Fischer, Frankfurt am Main 2018, 171 Seiten, 24 Euro.

»Wenn man an der Moderne kratzt, merkt man, dass sie lediglich einen Zentimeter dick ist.« Die große britische Rhapsodin Alice Oswald (geboren 1966) hat dieses Kratzen in den Sedimenten der poetischen Moderne zu ihrer Passion gemacht. In 46 Minuten im Leben der Dämmerung liefert sie eine akribische Mitschrift eines Naturphänomens, nämlich der Momente des Übergangs aus der tiefen Dunkelheit ins »ersterwachte Licht« und in den Ruf der Morgenröte. Dabei folgen die Verszeilen der Ordnung einer Partitur: mit der Markierung von Pausen, Leerzeilen und der strengen Reduktion der Wörter, die ins Schweigen und die Leere übergehen. Das von Melanie Walz und Iain Galbraith sehr sorgsam übersetzte Buch präsentiert neben dem Band Falling awake (2016) auch noch Memorial (2011), jene atemberaubende »Ausgrabung aus der Ilias«, die auf sieben Achtel des Originaltextes verzichtet zugunsten einer »antiphonalen« Neuaufladung der antiken Konstellation. Homers Original wird hier entkernt und zugleich auf schönste Weise zum Leuchten gebracht.

Weitere Informationen: S. Fischer Verlag